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Peinliche Vorfälle

Welt-Kontinenz-Woche rückt tabuisierte Erkrankungen wie Inkontinenz und Prolaps in den Fokus

Noch immer überwiegt die Scham. Menschen, die unter Harn- oder Stuhlinkontinenz leiden, sprechen meist nicht über ihre Beschwerden; viele vertrauen sich nicht einmal ihrem Arzt an. Dabei muss sich aus ein paar Flecken in der Unterhose keine Krankheit entwickeln – wenn rechtzeitig die richtigen Schritte eingeleitet werden. Betroffene früh zu erreichen, ihnen Hilfe anzubieten und Mut zu machen: Das sind die Ziele der Welt-Kontinenz-Woche (21. – 27. Juni 2021), an der sich auch das Kontinenz- und Beckenbodenzentrum des Universitätsklinikums Erlangen beteiligt. In diesem Jahr rücken die hiesigen Expertinnen den Prolaps in den Fokus: das (teilweise) Heraustreten eines inneren Organs aus einer natürlichen Körperöffnung, was auch als „Vorfall“ bezeichnet wird. Denn Menschen mit Beckenbodenschwäche leiden nicht nur unter Inkontinenz, bei einigen kommt es zu einem Vorfall der Blase, der Gebärmutter oder des Darms.

„Der Schock ist natürlich groß, wenn Sie auf der Toilette sitzen und plötzlich spüren, dass Sie beispielsweise ihren Darm außerhalb des Körpers tasten können“, sagt PD Dr. Birgit Bittorf, Fachärztin in der Chirurgischen Klinik (Direktor: Prof. Dr. Robert Grützmann) des Uni-Klinikums Erlangen. „Meist lässt sich das Organ sanft in den Körper zurückschieben – damit verschwindet aber nicht das ursächliche Problem!“ Während sich der äußere Vorfall eines Organs recht eindrücklich zeigt, sind die Anzeichen für einen inneren Vorfall nicht ganz so eindeutig. „Bei einem Prolaps der Gebärmutter verspürt die Frau ein Fremdkörpergefühl in der Scheide oder sie ertastet eine ungewohnte Wölbung“, erläutert PD Dr. Stefanie Burghaus, Oberärztin der Frauenklinik (Direktor: Prof. Dr. Matthias W. Beckmann) des Uni-Klinikums Erlangen. „Ein innerer Vorfall der Harnblase oder des Darms äußert sich wiederum als Entleerungsstörung, oder es zeigen sich braune Schlieren in der Unterwäsche“, ergänzt Dr. Verena Freier, Fachärztin der Urologischen und Kinderurologischen Klinik (Direktor: Prof. Dr. Bernd Wullich) des Uni-Klinikums Erlangen. Die Expertinnen empfehlen allen Betroffenen, sich an ihren Hausarzt zu wenden, der sie bei Bedarf an das Kontinenzzentrum des Uni-Klinikums Erlangen überweisen kann.

Der Beckenboden – keine reine Frauensache

Von Beckenbodenschwäche sind beide Geschlechter betroffen – obwohl viele Männer gar nicht wissen, dass auch sie einen Beckenboden besitzen. Er besteht aus Muskeln und Bindegewebe und hält die Bauch- und Beckenorgane an Ort und Stelle. „Eine Schwächung entsteht durch übermäßige Beanspruchung, zum Beispiel schwere körperliche Arbeit, Schwangerschaft und Geburt, Übergewicht oder chronischen Husten. Sie kann aber auch eine Alterserscheinung sein oder eine angeborene Bindegewebsschwäche als Ursache haben“, erklärt Dr. Burghaus. „Dementsprechend tritt ein Prolaps entweder bei jüngeren Menschen mit familiärer Vorbelastung auf oder bei Senioren. Manchmal leiden auch Frauen nach der Entbindung vorübergehend unter einem Vorfall dieser Organe.“

Prophylaxe – das A und O

Ganz verhindern lässt sich eine Beckenbodenschwäche zwar nicht, aber hinauszögern. „Die Vorbeugung ist kein Hexenwerk“, betont Dr. Freier. „Achten Sie einfach auf einen gesunden Lebensstil: normales Körpergewicht, nicht rauchen, ballaststoffreiche Ernährung zugunsten einer geregelten Darmtätigkeit, ausreichende Flüssigkeitszufuhr, nicht schwer heben und körperliche Betätigung.“ Dabei sprechen die Expertinnen bewusst nicht von Sport, sondern verweisen auf alltagstaugliche Aktivitäten wie die Treppe statt den Aufzug zu nehmen, eine Station früher aus dem Bus zu steigen und nach Hause zu laufen oder zwei-/dreimal in der Woche einen 30-minütigen Spaziergang zu machen. „Sie müssen keine Höchstleistungen vollbringen!“, sagt Dr. Bittorf und warnt vor Extremen: „Trinken Sie gleichmäßig über den Tag verteilt und stürzen Sie nicht abends mit schlechtem Gewissen zwei Liter Wasser auf einmal hinunter. Gehen Sie aufs Klo, wenn Sie müssen – aber pressen Sie nicht und vermeiden Sie lange Sitzungen.“ Die Anzahl der täglichen Toilettengänge ist übrigens kein Indiz für eine Erkrankung des Beckenbodens. Eine geregelte Darmtätigkeit beispielsweise bedeutet für die eine zweimal pro Woche, für den anderen dreimal am Tag. „Entwickeln Sie ein Bewusstsein für Ihren Körper und seine Bedürfnisse“, empfiehlt Verena Freier. „Wenn Sie merken, dass sich etwas nach und nach verändert, sollten Sie handeln und bei zunehmendem Leidensdruck Ihren Hausarzt aufsuchen.“

Behandlung durch den richtigen Facharzt

Einen Facharzt müsse man nicht gleich konsultieren, und so stellt sich auch nicht die Frage: „Welcher Mediziner ist eigentlich für mich und meine Beschwerden zuständig?“ Wer mit einer Überweisung des Hausarztes ins Kontinenzzentrum des Uni-Klinikums Erlangen kommt, kann sich vertrauensvoll in die Hände des erfahrenen interdisziplinären Teams begeben. „Patientinnen mit einem Prolaps der Gebärmutter werden zwar höchstwahrscheinlich bei uns in der Frauenklinik behandelt“, sagt Stefanie Burghaus, „aber im Rahmen unserer regelmäßigen Konferenzen tauschen wir uns mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fachdisziplinen aus, besprechen die Fälle und erarbeiten individuelle Behandlungspläne. Abhängig vom persönlichen Krankheitsbild kann es auch sein, dass eine Patientin die bestmögliche Therapie vom Urologen erhält – das ist nämlich kein ‚Männerarzt‘, sondern ein Spezialist für die Harnorgane beider Geschlechter.“

Minimalinvasive OP-Verfahren

Zunächst schöpfen die Erlanger Expertinnen und Experten die konservativen Behandlungsmöglichkeiten aus, verordnen z. B. Beckenbodengymnastik oder Physiotherapie. „Eine Operation ist häufig erst der letzte Schritt“, betont Birgit Bittorf. „Welchen Eingriff wir unseren Patientinnen und Patienten schließlich empfehlen, ist abhängig von ihrem Alter, ihren Vorerkrankungen und ihrer Anatomie.“ Im Kontinenzzentrum des Uni-Klinikums Erlangen werden alle gängigen Verfahren angeboten; eine Stabilisierung des betroffenen Organs erfolgt entweder von der Scheide oder dem Darm aus oder laparoskopisch. Die Ärztinnen und Ärzte heben die vorgefallenen Organe beispielsweise durch die Rekonstruktion des Beckenbodens mit Eigengewebe oder Netzen, die dauerhaft im Bauchraum befestigt werden. In anderen Fällen ist ein Pessar das Mittel der Wahl: Es hat die Form eines Rings, einer Schale oder eines Würfels, besteht aus Gummi und kann z. B. in die Vagina eingesetzt werden, um das Scheidengewölbe zu spannen und so die Gebärmutter abzustützen. „Bei Frauen im gebärfähigen Alter gehen wir besonders behutsam vor und wägen genau ab“, sagt Dr. Burghaus. „Der Organerhalt und die damit verbundene Möglichkeit, dass sich ein späterer Kinderwunsch erfüllt, stehen an oberster Stelle.“

Kontinenzzentrum des Uni-Klinikums Erlangen

Das Kontinenz- und Beckenbodenzentrum des Universitätsklinikums Erlangen wurde im Juli 2015 erstmals erfolgreich zertifiziert. Unter seinem Dach behandeln Expertinnen und Experten der Chirurgischen Klinik, der Frauenklinik und der Urologischen und Kinderurologischen Klinik des Uni-Klinikums Erlangen gemeinsam Patientinnen und Patienten und erarbeiten individuelle Therapieempfehlungen. Ziel ist die Bündelung von Fachwissen rund um das Krankheitsbild Harn- und Stuhlinkontinenz sowie verschiedene andere mit dem Beckenboden zusammenhängende Erkrankungen. Sprecher des interdisziplinären Zentrums sind Prof. Dr. Matthias W. Beckmann (Frauenklinik), Prof. Dr. Klaus Matzel (Chirurgie/Koloproktologie) und Prof. Dr. Bernd Wullich (Urologie).

Weitere Informationen:

Geschäftsstelle des Kontinenz- und Beckenbodenzentrums
Telefon: 09131 85-42660
E-Mail: kontinenzzentrum(at)uk-erlangen.de